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Die Zeit
Donnerstag, 11. Januar 2001

Die familienfeindliche Gesellschaft zerstört die Voraussetzungen ihrer eigenen Existenz


Von Paul Kirchhof

Europa und Deutschland gehören zu den reichsten Regionen der Welt - das ist richtig, wenn wir mit Reichtum die Wirtschaftskraft meinen. Es wäre falsch, wenn damit Kinderreichtum behauptet werden sollte. Für die Entwicklung von Gesellschaft und Staat ist es aber entscheidend, dass junge Menschen unsere Errungenschaften der Technik, der Ökonomie, der Kultur aufnehmen und weiterentwickeln und dass sie dabei Lebensbedingungen vorfinden, die ihnen eine Entfaltung des Überkommenen zum Besseren erlauben. Daher liegt die Vermutung nahe, dass der Staat sein Recht und seinen Reichtum einsetzt, um die Rahmenbedingungen für die Familien so zu gestalten, dass der Wille zum Kind und die Bereitschaft zur Erziehung tatsächlich vollzogen werden. Denn ohne Jugend hätten Staat und Gesellschaft keine Zukunft.

Ein freiheitlicher Staat gibt die Entscheidung für das Kind und für dessen Erziehung in die Verantwortung der Eltern. Das Kind soll in der Geborgenheit der Familie zur Freiheitsfähigkeit heranwachsen. Es soll in der Begegnung mit den Eltern Zuwendung und Sicherheit erfahren, Eigenständigkeit und wachsende Kräfte zunächst in der Familie erproben, unter der Obhut und Mitverantwortung der Eltern in einem sich ständig erweiternden Kreis von Menschen Fuß fassen. Es soll sich schließlich aus der elterlichen Obhut lösen und in Schule, Ausbildung, Beruf und der Gründung einer eigenen Familie Eigenständigkeit gewinnen.

Der freiheitliche Staat gibt damit seine Zukunft in die Hand der Familie.
Die elterliche Erziehung gewährleistet, dass Kinder hinreichend Selbstbewusstsein, Urteilskraft und Disziplin entwickeln, um in einer freiheitlichen Ordnung leben zu können, aber auch hinreichend Bürgerstolz und Gemeinsinn mitbringen, um als Bürger den demokratischen Staat mitzutragen. Der Staat baut somit auf die Bereitschaft der Menschen, Ehen zu gründen, sich Kinder zu wünschen und diese in der Geborgenheit familiärer Zuwendung zu erziehen. Diese Verfassungsvoraussetzung ist jedoch gegenwärtig in Deutschland nicht mehr selbstverständlich, der demokratische Rechtsstaat deshalb in seiner Existenz gefährdet: Die Entwicklung von Geburten- und Sterbefällen, die sinkende Zahl der Ehen, die zunehmende Häufigkeit von Scheidungen, der Wiederanstieg außerehelicher Geburten und die Zahl der Alleinerziehenden belegen, dass der Zusammenhalt der Menschen in der Familie gelockert, die Sinngebung des Lebens durch das eigene Kind infrage gestellt, die Bindung in einer lebenslänglichen Verantwortungs- und Beistandsgemeinschaft geschwächt zu werden droht.

Das deutsche Grundgesetz stellt die Lebensgemeinschaft von Ehe und Familie unter den "besonderen Schutz der staatlichen Ordnung" (Art. 6 Abs. 1 GG).
Das verpflichtet den Staat, in seiner Rechtsordnung das Institut der Ehe und Familie bereitzustellen, diese Personengemeinschaften als Keimzellen jeder staatlichen Gemeinschaft zu achten und zu schützen und die Ehe und Familie durch geeignete Maßnahmen zu fördern sowie vor Beeinträchtigungen und Belastungen zu bewahren. Die Ehe ist als Lebensgemeinschaft von Mann und Frau die, wie das Bundesverfassungsgericht sagt, "alleinige Grundlage einer vollständigen Familiengemeinschaft" und "Voraussetzung für die bestmögliche körperliche, geistige und seelische Entwicklung von Kindern".

Die verfassungsrechtliche Freiheit von Ehe und Familie enthält ein Angebot, das der Freiheitsberechtigte ausschlagen darf, dessen Annahme der Staat aber erhofft und erwartet. Der Wille der Menschen zur Lebensgemeinschaft der Familie soll nach dem Schutzauftrag des Grundgesetzes gefestigt, gefördert und gegen Eingriffe abgeschirmt werden. Dieser Auftrag ist gegenwärtig teilweise unerfüllt und wird verletzt. Das Grundgesetz bietet den jungen Menschen gleichzeitig Freiheit zur Familie (Art. 6 GG) und Freiheit zum Beruf (Art. 12 GG) an. Faktisch aber werden die jungen Menschen - besonders die Frauen - oft vor die schroffe Wahl gestellt, sich entweder für die Berufstätigkeit oder das Kind zu entscheiden.

Die familienfeindliche Struktur der gegenwärtigen Berufs- und Wirtschaftsordnung hat ihren Grund in der Trennung von Arbeitsplatz und Familienwohnung sowie in der rechtlichen Herabstufung der Familientätigkeit zu einer wirtschaftlich unerheblichen Leistung. Früher widmeten sich die Eltern in landwirtschaftlichen und gewerblichen Betrieben gleichzeitig der Erziehung und dem Erwerb. Damit nahm die erziehende Mutter auch die in der Arbeit liegenden Möglichkeiten der Begegnung, der Anerkennung und der Einkommenserzielung wahr. Heute wird der wirtschaftliche Wert der Erziehungsleistung nur noch beruflichen Erziehern zuerkannt, die in Schule, Kindergarten oder therapeutischer Anstalt tätig sind. Die familiäre Erziehung bleibt in der Privatheit des Familienlebens und der eigenen Wohnung. Sie erscheint deshalb nicht als entgeltwürdige Leistung, sondern als Konsum, nicht als Quelle für Einkommen, Wohlstand und Sicherheit, sondern als Aufwand für die persönliche Lebensführung.

Bei dieser Trennung von Erwerbs- und Familientätigkeit hat die familiäre Erziehung nur noch den wirtschaftlichen Wert, dass die Eltern bei Krankheit, Arbeitslosigkeit, Alter und Notfällen einen Unterhaltsanspruch gegen ihre Kinder gewinnen, also durch ihre Kinder soziale Sicherheit erfahren. Auch dieser wirtschaftliche Wert der Erziehungsleistung ist aber im Generationenvertrag der öffentlichen Sozialversicherung kollektiviert, von der familiären Erziehungsleistung gelöst und sogar gegenüber der Beitragsleistung als geringerwertiger Beitrag im Generationenvertrag herabgewürdigt worden. Dadurch wird die sozialstaatliche Errungenschaft der öffentlichen Sozialversicherung, die auch den Kinderlosen wirtschaftliche Sicherheit im Krisenfalle bietet, zu einem rechtsstaatlichen Skandal: Die alleinigen Träger dieses Generationenvertrages, die Eltern und in erster Linie die Mütter, sind in diesem "Vertrag" nicht oder kaum aus eigenem Recht beteiligt. Hier erfordert der Verfassungsauftrag des Familienschutzes und der Gleichberechtigung von Mann und Frau strukturelle Veränderungen.

Zwar erkennt das Familienrecht den Unterhaltsanspruch der Eltern gegen die Kinder weiterhin an. Das Sozialversicherungsrecht jedoch verpflichtet die Kinder vorrangig, die Erwerbstätigen und nicht die Erziehenden zu finanzieren. Dadurch kehrt sich der verfassungsrechtliche Gedanke der familiären Unterhaltsgemeinschaft in sein Gegenteil: Im Normalfall muss das Ehepaar mit Kindern zur Erfüllung des Erziehungsauftrags auf die Erwerbstätigkeit eines Elternteils verzichten - und damit auf dessen Einkommen und Rentenanspruch. Dafür hat es aber die Aufwendungen für Kinder zu tragen. Dagegen verfügt ein Paar ohne Kinder über zwei Einkommen, zwei Rentenansprüche und deren Kumulation im Hinterbliebenenfall. Der Staat organisiert die sozialstaatliche Errungenschaft einer Sicherung in Alter und Krise für alle - auch die kinderlosen - Erwerbstätigen. Aber er zwingt die Kinder, ihre eigenen Eltern leer ausgehen zu lassen.

Deshalb hat das Bundesverfassungsgericht im Urteil zu den "Trümmerfrauen" (1992) festgestellt, die gesetzgeberische Entscheidung, "dass die Kindererziehung als Privatsache, die Alterssicherung dagegen als gesellschaftliche Aufgabe gilt", benachteilige die Familie, ohne dass es dafür "angesichts der Förderungspflicht aus Art. 6 Abs. 1 GG einen zureichenden Grund gebe". Der Gesetzgeber hat "jedenfalls sicherzustellen, dass sich mit jedem Reformschritt die Benachteiligung der Familie tatsächlich verringert". Ausgangspunkt für eine familiengerechte Ausgestaltung des Sozialversicherungssystems ist die Gleichwertigkeit von Erziehungs- und Erwerbsleistung: Die materielle Gleichwertigkeit von Kindererziehung und monetärer Beitragsleistung liegt in der gleichen Arbeitsleistung, dem gleichen Konsumverzicht und dem gleichen Angewiesensein auf Sicherheit und Bedarfsdeckung. Kindererziehung und monetäre Beitragsleistung sind deshalb als Grundlagen der öffentlichen Sozialversicherung gleichwertig und müssen zu gleichwertigen Leistungen führen.

Das Bundesverfassungsgericht hat den Gesetzgeber verpflichtet, die Familie als Unterhaltsgemeinschaft anzuerkennen und deshalb das Einkommen der Eltern insoweit steuerfrei zu belassen, als es zur Sicherung des existenznotwendigen Aufwandes der Kinder in angemessener, realitätsgerechter Höhe benötigt werde. Entsprechendes gilt für die staatliche Leistung des Kindergeldes, welche besonders gering verdienenden Familien zugute kommt, die durch steuerliche Abzugsbeträge kaum entlastet werden und umso mehr auf eine sozialstaatliche Sicherung des familiären Existenzminimums angewiesen sind.

Hat der Staat den rechtlichen Rahmen für die Freiheit zu Ehe und Familie gesichert, hat er störende Einwirkungen auf die familiäre Gemeinschaft abgewehrt, so genügt er dem Schutzauftrag des Art. 6 GG nur, wenn er die Familie darüber hinaus auch festigt und fördert. Es gehört zu den traditionellen Lehren vom Staat, dass Vernunftfähigkeit sich unter dem Einfluss von "Institutionen der Sittlichkeit" entfaltet, deren erste die Familie ist (Hegel). Der Zusammenhalt des Staates wird zerstört, wenn die Familie als entbehrlich gilt: Ohne Familie gibt es keine wirksame Erziehung, ohne Erziehung keine Persönlichkeit, ohne Persönlichkeit keine Freiheit (Montesquieu). Deshalb stellt die Verfassung die Familie unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung.

Diese Mitverantwortlichkeit des Staates verwirklicht sich besonders in der Rechtsstellung, welche die Berufs- und Wirtschaftsordnung den Eltern zuweist. Der Anspruch jeder Mutter auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft (Art. 6 Abs. 4 GG) verpflichtet, so das Bundesverfassungsgericht, den Gesetzgeber, "Grundlagen dafür zu schaffen, dass Familientätigkeit und Erwerbstätigkeit aufeinander abgestimmt werden können und die Wahrnehmung der familiären Erziehungsaufgabe nicht zu beruflichen Nachteilen führt". Sodann hat der Gesetzgeber nicht nur im Arbeitsrecht, sondern auch in anderen Bereichen des Privatrechts "Regelungen mit besonderer Rücksicht auf Familien mit Kindern zu erwägen". Dies gilt besonders für das Mietrecht, das Kreditvertragsrecht und die Erhaltung eines Studienplatzes.

Bedingung für die Entfaltung der Persönlichkeiten von Eltern und Kind ist die Familie. Wer sich allein des Berufes wegen gegen ein Kind entscheidet, sollte sorgfältig bedenken, ob er damit nicht seiner Biografie einen weniger glücklichen Verlauf gibt. Die Gleichberechtigung von Frauen und Männern wird nicht dadurch verwirklicht, dass das Kind im Wirtschafts- und Rechtsleben verschwiegen oder ausgeblendet wird. Ebenso wird die Freiheitschance des Kindes gemindert, wenn die Lebensstrukturen auf den Alleinerziehenden ausgerichtet werden. Gleichberechtigung ohne oder gegen das Kind muss misslingen. Das vaterlose und auch das geschwisterlose Kind verlieren oft ein Stück Chancengleichheit.

Vielfalt der Familien bedeutet Vielfalt der Freiheitsansätze. Deshalb ist es für die Freiheitsstruktur eines Staates erheblich, ob die Kinder in den Familien oder in staatlich bestimmten Einrichtungen erzogen werden. Viele Freiheitsfelder - die Religion, die Kunst, die Wissenschaft, der Sport, die Technik - erschließen sich den Kindern allein durch ihre Eltern. Daneben ist die familiäre Erziehung der Kinder aber auch Bedingung unseres Wirtschaftssystems. Die Kosten für einen kommunalen Krippenplatz betragen teilweise mehrere tausend Mark im Monat. Würden alle Eltern ihr Kind in diese staatliche Obhut geben, würde das soziale Finanzierungssystem zusammenbrechen.

Vor diesem Hintergrund muss vor allem erwogen werden, den Familien ähnliche wirtschaftliche Gestaltungsmöglichkeiten anzubieten wie den Kinderlosen, sie also nicht mehr wegen der Wahrnehmung einer unverzichtbaren Verfassungserwartung zu benachteiligen. Ein deutlich erhöhtes Kindergeld oder ein Erziehungsgehalt könnte Eltern und Familien arbeitsteilige Erwerbs- und Familientätigkeit ermöglichen. Die Mitverantwortung von Familie und Staat für das Kind äußert sich nicht nur im elterlichen und schulischen Erziehungsauftrag, sondern besonders in der rechtlichen und finanziellen Verantwortlichkeit von Staat und Gesellschaft für ihre gemeinsame Zukunft.

Das Verfassungsrecht ist hier Anstoß, der Gesetzgeber als Erstinterpret des Art. 6 GG Gestalter dieser Entwicklung.
Die verfassungsrechtlich gewährleistete Freiheit bezeichnet grundsätzlich die Freiheit vom Staat. Da der Mensch aber mit der Geburt und später bei Krankheit, Armut, Enttäuschung, Vereinzelung bis zur Altersgebrechlichkeit hilfsbedürftig ist, braucht er Zuwendung, Erziehung, Beistand und Unterhalt.

Die Institution, die diese Gemeinschaft gegenseitiger Verantwortlichkeit und Lebenshilfe begründet, ist die Ehe und Familie. Sie festigt Zusammengehörigkeit und Zusammenhalt, gedanklichen Austausch und wechselseitige Förderung, bietet Lebenshilfe, die der Einzelne empfängt und die von grundlegender Bedeutung für die Fähigkeit zur Freiheit und für die Ordnung des Gemeinschaftslebens ist.

Freiheit vom Staat baut also auf enge Bindung unter den Freiheitsberechtigten. Die Wahrnehmung verantwortlicher Elternschaft erübrigt die staatliche Lebensbegleitung des Kindes. Familiärer Unterhalt erspart öffentliche Sozialhilfe, private Pflege ersetzt die Dienstleistungen von Seniorenheim und Krankenhaus. Der persönliche Dialog macht eine psychologische und therapeutische Beratung überflüssig. Die eheliche und familiäre Lebensgemeinschaft wirkt bei Orientierungsarmut und drohender Rechtsverletzung ausgleichend und friedenstiftend, schützt damit vor polizeilichen und gerichtlichen Eingriffen. Der altersgebrechliche Mensch wird sich nicht auf seine Aktien und seine Geldscheine stützen können, sondern durch die Hand von Ehepartner und Kindern Hilfe erfahren. Gäbe es Ehe und Familie nicht, könnte der Rechtsstaat seine Freiheitlichkeit nicht bewahren, der Sozialstaat würde seine Leistungskraft überfordern.

Ehe und Familie sind Bedingungen der Freiheitlichkeit. Der Staat kann nur Freiheitsrechte anbieten und günstige Bedingungen für die Annahme dieses Angebotes schaffen. Die Bereitschaft der Menschen für die Annahme insbesondere der kulturellen Freiheiten hängt aber von ihrer Erziehung ab.

Daher muss der Staat gerade in der Gegenwart den Erziehungsauftrag der Familien stützen und stärken. Jede Generation kann nur die Kultur entfalten, deren Wurzeln in vorausgehenden Generationen gelegt sind. Dazu bieten die Familien die Lebensgemeinschaften, in denen elterliche Gewohnheit jugendlichem Erneuerungsdrang begegnet. Hier treffen erprobte Werte auf unbekümmerten Freiheitswillen, hier öffnet sich die Gebundenheit in Kultur und Gemeinschaft der nächsten Generation. Unsere Zukunft liegt in der Hand der Familien.

Paul Kirchhof war von 1987 bis 2000 Bundesverfassungsrichter. Seit seinem Ausscheiden aus dem Gericht lehrt der 1941 geborene Jurist Steuerrecht an der Universität Heidelberg. Als Verfassungsrichter war Kirchhof an allen zentralen Entscheidungen zum Familienrecht maßgeblich beteiligt

DIE ZEIT Nr. 3 vom 11. Januar 2001

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